Ich habe heute in meiner verhaltenstherapeutischen Sitzung fast nur geheult. Ein Novum. Bin ja eher der kontrolliert-beherrschte Typ. Tränen sind da ein selten genutzter specialeffect. Wie also hat die Franzi das geschafft?
Ich sollte mir vorstellen, ich stünde vor einem Gabentisch. Ein Tisch voller Geschenke, die das Leben für mich bereithält. Unterschiedlich verpackt, unterschiedlich groß und mal mehr und mal weniger liebevoll dekoriert. In einigen Geschenken stecken tolle Abenteuer, großartige Bekanntschaften eben die schönen und das Leben bereichernden Dinge. In einigen stecken aber auch Dinge, Menschen, Erfahrungen, Erlebnisse…auf die man gern verzichten möchten. Wenn man denn die Wahl hat. Und so gibt es Menschen, die es kaum erwarten können, ein Geschenk nach dem anderen auszupacken um wirklich jede Facette des Lebens mitzunehmen. Fröhlich, neugierig, erwartungsvoll und unvoreingenommen. Und dann gibt es mich!
Ich gucke nur. Ich bewundere die Geschenke aus der Ferne. Analysiere Form, Farbe und Größe. Ziehe Rückschlüsse. Vergleiche. Verzichte. Vielleicht mal eins anfassen und wenn es ganz wild wird, dann auch mal daran schütteln oder einen Millimeter vom Papier lösen um zu schauen was darunter ist. Gefällt aber nicht was zum Vorschein kommt (falsche Farbe oder Materialbeschaffenheit) wird es zurück auf den Gabentisch gelegt und weiterhin nur geschaut. Viel zu riskant. Nicht im Ansatz kontrollierbar. Lieber bei dem bleiben was ich kenne, kontrollieren kann, was sicher ist.
Ich denke ich muss nicht lange ausführen, wer wohl das erfülltere Leben führt.
So sah ich mich nun also stehen vor diesem Gabentisch und heulte als gäbe es kein Morgen mehr. Nicht, dass diese Pandemie nicht schon schlimm genug wäre. Jetzt auch noch die gezielte Auseinandersetzung mit der Frage um die Funktionalität meiner Ängste, meines enormen Sicherheitsbedürfnisses, dem Willen alles unter Kontrolle haben zu müssen, dem ständigen Sorgen und den perfiden Krankheitsängsten! Um mal kurz ins magische Denken abzudriften: Das haben sich Universum, Karma& Co. super ausgedacht. „Scheiß auf Einzelexposition, wir machen mal Pandemie für die ganzen Hypochonder. Mit ordentlich Symptomvielfalt und feinen Folgeerkrankungen.“ Es sind also ohnehin schon harte Zeiten, für jeden von uns auf die ein oder andere Art und ich wage zu behaupten für Menschen wie mich noch mal mehr bzw. anders.
Inmitten dieser Dauerkonfrontationstherapie soll ich mich nun also auch noch damit beschäftigen was mein sekundärer Krankheitsgewinn ist. Als ob diese Ängste und Sorgen, die ich so wahnsinnig gerne los wäre, irgendeinen Benefit hätten. Oder gibt es einen? Was stabilisiert das Sorgen in mir? Wenn die Ängste eine tragende Säule meines Lebenshauses sind, stürzt es dann ein, würde diese Säule fehlen? Ich werde mal ein paar Blicke in diese Richtung riskieren, obwohl Risiko ja nicht so meins ist. Vielleicht könnte ich auch die Geschenke vom Gabentisch so hoch stapeln, dass diese die Sorgensäule verzichtbar machen. Aber zunächst sollte ich wohl damit beginnen, das ein oder andere Geschenk auszupacken. Gefährlich, ich weiß, aber ich durchlebe als Hypochonder gerade eine weltweite Pandemie. Könnte die Geschenke des Lebens auszupacken soviel gefährlicher sein?!