…schöne neue Welt

Was ist los da draußen? Bin ich tatsächlich schon so alt, dass ich all die Neuerscheinungen auf dem Beziehungskonzeptemarkt verpasst habe? Es sollte eine App geben, die mich zukünftig mit schrillem Warnton darüber informiert, wenn mal wieder was Neues auf dem Markt erschienen ist. Nur gucken, nicht kaufen. Obwohl, wäre eine Beziehungskonzepttauschbörse nicht auch mal eine Idee? Wie bei all den großen Onlinekaufhäusern: bestellen und gemütlich daheim anprobieren. Bei Nichtgefallen dann kostenloser Rückversand oder Umtausch möglich. Ich schweife ab…

Im November überrannten mich all die Sonderbarkeiten. Sonderbar ist hierbei keine Wertung sondern lediglich ein Ausdruck meiner Verwirrtheit. Kannte bislang nur die Klassiker der Beziehungskonzepte. Monogamie und zwangloses Rumkopolieren. Nun gut, dass es noch was dazwischen gibt ist mir nicht entgangen. Im November also erzählte mir eine Kollegin, 15 Jahre glücklich verheiratet, dass sie ihrem Mann, wenn er dann den Wunsch nach Sex mit einer anderen Frau hätte, diesen Wunsch würde erfüllen wollen. Sie sei sich seiner Liebe sicher und es wäre doch nur Sex. Ich habe viel darüber nachdenken müssen. Nach 15 Jahren könnte der Wunsch nach fremder Haut durchaus auftauchen. Ich kann das persönlich nicht beurteilen, weil ich eine so lange Beziehung nie hatte. Ist es also egoistisch, fragte ich mich, dem anderen Partner diesen Wunsch zu versagen aus dem „Nicht-teilen-wollen-Gefühl“ heraus? Wenig später erzählt mir eine Freundin, dass ihr Mann nach 20 Jahren Beziehung nun den Wunsch geäußert habe, mit einem Mann schlafen zu wollen. Das machte mich zunächst sprachlos. Entgegen meiner Kollegin sei sie aber nicht bereit ihm diesen Wunsch durch ihre Zustimmung zu erfüllen. Sie sagte, dass sei eben nicht sie und dass sie sich selbst verraten würde, wenn sie nur zustimmt weil er es sich wünscht. Da konnte ich mitgehen. Wenn auch schon ein Jahr zuvor, aber auch im November, verriet mir ein Freund er lebe Polyamorie mit seiner Freundin. Nie zuvor davon gehört. Er führe also unter Umständen auch mal mehrere Beziehungen zu Frauen, die aber alle von einander wüssten. Entgegen der offenen Beziehung geht es bei der Polyamorie also darum mehrere Menschen gleichzeitig lieben zu können. Das nun diesen November im Hinterkopf habend, war meine Verwirrung komplett. Reicht nicht ein Mensch zum Befriedigen aller in einer Partnerschaft entstehenden Bedürfnissen aus? Im Grunde genommen kann man diese Frage nur mit einem Nein beantworten. Aber: es kommt wohl auf das Bedürfnis an und was von davon abhängt, ob es befriedigt wird oder nicht. Die Bandbreite dürfte wohl von Nichts(1)-Alles(10) reichen. Völlig neben der Denkspur war ich dann, als ein sehr guter Freund mir berichtete er sei seit Kurzem wieder in einer Beziehung mit (s)einer Traumfrau und beide hätten sich von Beginn an darauf geeinigt: Fremde Haut ab und an gehört für beide Seiten dazu, bei völliger Offenheit. Sprachlosigkeit stellte sich ein. Internal und external. Und so fragte ich mich lange, ob ich das recht dazu habe meinem Partner fremde Haut oder eine Parallelliebesbeziehung zu versagen, nur weil ich meine Eifersucht nicht händeln könnte. Oder könnte ich sie händeln? Was ist aus: nur Du und Ich geworden? Macht das zwangsläufig unglücklich? Beziehungsweise ist fremde Haut ab und an oder mit 2 Menschen eine Liebesbeziehung zu führen ein Garant für gutes Gelingen? Letzten Endes konnte ich den roten Faden im hausgemachten Synapsengewirr finden und für mich sagen, dass ich all diese Beziehungskonzepte als gleichwertig nebeneinanderstehend betrachte. Solange Paar, Trio oder Quartett sich einig sind ist alles gut. Blickt einer in eine völlig andere Richtung wird es vermutlich schwierig. Mein anfängliches „Höher-Schneller-Weiter-Gerotze“ habe ich eingestellt, denn wir haben vermutlich nur dieses eine Leben und da soll doch bitteschön jeder das für sich Richtige rausholen. Wenn man also wie ich das Monogamiekonzept präferiert, sollte man nur nie aufhören miteinander zu reden. Bedürfnisse besprechen und gemeinsam abwägen ob man sich damit noch in den einst abgesteckten Beziehungsgrenzen bewegt oder ob ein kurzer Blick über den Tellerrand doch drin sein kann. Unterdrückte Bedürfnisse ab 6 aufsteigend, sollten jedoch ernstgenommen werden. Über kurz oder lang bahnen sie sich sonst andere Kanäle.

Und vielleicht liegt es ja gar nicht an meinem Alter oder dem Fehlen der Beziehungskonzepteapp, denn all diese Modelle hat es schließlich schon immer gegeben. Vermutlich nicht durchgehend mit der gewünschten gesellschaftlichen Akzeptanz wie wir sie aus meiner Sicht heute haben und wahrscheinlich, weil auch ich erstmal die ein oder andere Schublade öffnen, durchwühlen, befüllen und entleeren und dann wieder schließen musste.

Vorurteil kommt doch von : vor dem eigentlichen Urteil, oder?!…;) Damit sind Vorurteile quasi unerlässlicher Bestandteil des Findungsprozesses. So!